Nieselregen, Minusgrade, ein frischer Wind? Stört die Kinder des ersten Hofer Waldkindergartens längst nicht mehr! Erzieher Christoph Merkel weiß: „Die Erwachsenen sind die Ersten, die frieren.“ Und die Kinder? Sind ausgeglichener, weniger krank und wahre Experten in Sachen Wetter.
Man ist sich nicht einig beim Morgenkreis auf der Lichtung neben dem Bauwagen: Regnet es oder regnet es nicht? Die Kinder ziehen die Handschuhe aus und halten die Handflächen gen Himmel – nichts zu spüren. Auf dem Gesicht – vielleicht ein bisschen. Aber wenn alle ganz still sind, hört man den Nieselregen auf den Winterjacken rascheln. Also doch ein Regentag. Der Rest ist einfach zu klären heute: kalt, grau, Winter. Nichts, was einem lustigen Vormittag mit einer Menge Bewegung im Weg stehen würde.
Am Vortag haben die Kinder entdeckt, dass man auch (fast) ohne Schnee wunderbar Popo-Rutscher fahren kann. Christoph Merkel, der als Erzieher für die Waldkindergarten-Gruppe des Kinderhauses „Der gute Hirte“ verantwortlich ist, hat in den vergangenen Monaten festgestellt: „Die größten Attraktionen sind oft Dinge, auf die wir Erwachsenen überhaupt nicht kommen.“ Merkel hat in Sachen Waldkindergarten gemeinsam mit seinen Kolleginnen (einer Kinderpflegerin und einer Erzieherin in Ausbildung) und seinen Schützlingen im vergangenen Herbst Neuland betreten. Der Trägerverein „Christliches Kinderhaus“ wollte aufgrund der hohen Nachfrage gerne weitere Kindergartenplätze schaffen, doch der Platz war knapp. Da dem Trägerverein schon immer das Konzept eines Waldkindergartens zusagte, machte man sich daran, den Traum zu verwirklichen. Die Idee fand schnell großen Anklang; im Herbst vergangenen Jahres ging es los.
Der Tagesablauf ähnelt dem im Regelkindergarten, nur eben im Freien. Zum Morgenkreis setzen sich die Kinder auf kleinen Baumstümpfen zusammen; beim anschließenden Freispiel können sie sich in einem bestimmten Bereich, den eine gelbe Wäscheleine in den Bäumen markiert, frei bewegen. Das schönste Spielgerät hält die Natur bereit. Je nach Stimmung ist der große, dicke Baumstumpf neben dem Weg Wildsau, Feuerwehrauto, Haus oder Raumstation; in Töpfen wird mit Erde, Steinchen und Schneematsch Reis oder Suppe gekocht. Und die großen Äste und Wurzeln müssen dringend regelmäßig umgeräumt werden.
Die Brotzeit findet in einem überdachten Bereich neben dem Bauwagen statt. Anschließend steht ein organisiertes Angebot auf dem Programm. „Da muss man ein bisschen flexibel sein und sich nach dem Wetter richten“, erzählt Christoph Merkel. In der wärmeren Jahreszeit wird eher mit Naturmaterialien gebastelt, im Winter steht meistens ein Ausflug auf dem Theresienstein-Gelände an, damit die Kinder in Bewegung bleiben.
Sollte es einem Kind dennoch einmal zu kalt werden, kann es sich im Bauwagen, in dem auch die sanitären Einrichtungen untergebracht sind, kurz aufwärmen. Merkels Erfahrung nach sind allerdings in der Regel die Erwachsenen die Ersten, die frieren: „Weil die Großen gerne mal herumstehen, während die Kinder eigentlich immer in Bewegung sind.“
Dass die viele Bewegung an der frischen Luft wahre Wunder wirkt, haben der Erzieher und seine Kolleginnen schon nach wenigen Wochen Waldkindergarten-Alltag festgestellt: „Es geht wesentlich ruhiger zu als in einer normalen Kindergartengruppe. Es gibt kaum Streit und viel weniger Konflikte. Die Kinder sind seltener krank.“ Auch die Rückmeldungen der Eltern seien durchwegs positiv: Ihre Sprösslinge trauen sich mehr zu, sind ausgeglichener und holen motorische Defizite schnell auf.
Christina Merkel, Vorsitzende des Trägervereins „Christliches Kinderhaus“, Ehefrau von Christoph Merkel und zugleich selbst Mutter eines der Waldkindergarten-Kinder, ergänzt: „Die Kommunikation wird gefördert. Weil es keine vorgefertigten Spielsachen gibt, müssen die Kinder nicht nur ihre Fantasie einsetzen, sondern auch viel mehr miteinander sprechen. Oder zusammenhelfen, wenn sie beispielsweise schwere Wurzeln bewegen wollen.“ Die Worte „Mir ist langweilig!“, die in den mit Spielsachen gut bestückten Regelgruppen durchaus ab und an fallen, hat Christoph Merkel im Wald noch nie gehört.
Der Trägerverein „Christliches Kinderhaus“ eröffnete zunächst im Jahr 2008 unter dem Namen „Der gute Hirte“ nur eine Kinderkrippe. Die christliche Prägung ist für die Verantwortlichen nicht nur Lippenbekenntnis, sondern zieht sich durch den gesamten Alltag des Kinderhauses. Dazu gehören nicht nur das Singen von Kirchenliedern, gemeinsames Beten und Lesen biblischer Geschichten, sondern vor allem auch das aktive Vorleben von christlichen Werten: Nächstenliebe und Vergebungsbereitschaft sollen für die Kinder zur Selbstverständlichkeit werden. Andersgläubige sind selbstverständlich willkommen. Das Konzept kommt an: Im Jahr 2017 kam nach einem Umzug in neue Räume eine Kindergartengruppe dazu, und 2019 folgte schließlich die Waldkindergartengruppe.
Die klassische Vorschulerziehung kommt auch im Waldkindergarten nicht zu kurz. Zwar gehe man manche Themen etwas anders an als in der Regelgruppe. „Aber auch wir arbeiten ganz konventionell mit Stift und Papier“, schmunzelt Erzieher Christoph Merkel. Um die Ablenkung gering zu halten, findet die Vorschulerziehung in der Regel im Bauwagen statt. Meistens jedoch steht das schöne Gefährt ungenutzt auf der Wiese. So wie an diesem kalten, grauen Wintertag.
Ein Junge, der gerade erst aus dem Urlaub zurückkam und sich heute noch schwertut, in den Kindergarten-Alltag zurückzufinden, hat sich mit Eimer und Schaufel unter die Stufen des Bauwagens zurückgezogen und buddelt konzentriert vor sich hin. Ein anderer hat ein großes Stück Eis gefunden, in dem Blätter und Steine eingeschlossen sind. Alle Kameraden bewundern den Schatz ehrfürchtig. Danach geht es auf zur Vogelfutter-Runde: Vor Weihnachten haben die Kinder selbst Vogelfutter gekocht und diverse Bäume und Sträucher damit bestückt. Über die Ferien haben die Vögel und Eichhörnchen alles aufgefressen. Höchste Zeit, wieder aufzufüllen. Aufwärmen im Bauwagen? Vielleicht morgen – falls es da mal so richtig schlimm regnen sollte. Sandra Langer