Mit neun Jahren das erste Mal betrunken; mit 39 fast am Missbrauch verschiedener Suchtmittel gestorben: Dann machte Angelika Schemmel aus Nentschau Schluss. Seit fast 30 Jahren hilft die heute 68-Jährige nun anderen Menschen.
Mit zwölf Jahren wurde sie zum ersten Mal ins Krankenhaus eingewiesen: drei Flaschen Sekt hatte sie zu diesem Zeitpunkt jeden Tag getrunken. „So konnte ich grausame Erlebnisse vergessen“, erklärt Angelika Schemmel – mehr will sie darüber nicht sagen. Zuhause, in der Schreinerei des Großvaters gab es oft Schnaps; Alkohol war also immer verfügbar.
Süchte und Liebe
Nach dem ersten Klinikaufenthalt bekam sie als 12-jähriges Mädchen Medikamente, von denen sie schließlich abhängig wurde – bis ihr auch die nicht mehr genügten und sie zu Drogen griff: erst zu Haschisch, dann LSD. Zusätzlich litt sie unter Magersucht. Mehrfachabhängigkeit ist der Fachbegriff dafür. Die Magersucht konnte sie mithilfe ihres ersten Freundes überwinden, der sie sehr liebte. Mit 16 bekam sie ihre Tochter. „Zum Glück“, sagt sie „denn heute habe ich nicht nur sie, sondern drei wunderbare Enkel.“ Doch am Anfang sei es nicht einfach gewesen. „Meine Tochter hatte nichts von mir.“ Ihre Mutter und Freundinnen hätten auf das Kind aufgepasst, später ihr jetziger Mann.
Hochzeit
Mit 20 Jahren hat Angelika Schemmel ihren Mann Günther kennengelernt und bald darauf geheiratet. Das Brautkleid hat sie selbst genäht, daran kann sie sich erinnern. „Doch von meiner Hochzeit weiß ich nichts mehr“, erzählt sie und gesteht, dass sie zu betrunken war. Mit 21 hörte sie auf zu trinken. Es folgten einige gute Jahre – doch mit 27 begann alles von vorn. Es kamen „zehn verlorene Jahre“, in denen sie bis zur Bewusstlosigkeit trank. „Kamikaze-Trinkerin“ sei sie gewesen, sagt sie. Mit 37 Jahren habe ihr Leben nur noch aus Trinken, Schlafen und Stoff besorgen bestanden – so lange, bis sie schließlich nicht einmal mehr Lebensmittel vertrug, nur noch Astronautennahrung. Sie fiel in ein Delirium, hörte Stimmen und wäre fast gestorben. Sie kam in eine Klinik und erlebte dort ihren härtesten Entzug. Doch sie wurde als uneinsichtig entlassen und hatte einen Rückfall. Drei Wochen lag sie danach krank zuhause – bis der Leidensdruck unerträglich wurde. „Ich wollte leben.“ Sie habe sich schließlich „selbst rausgezogen“ und einen Neuanfang gemacht. Sie machte eine Therapie.
„Ich wollte leben.“
Besonders geholfen hätten ihr zwei verschiedenen Selbsthilfegruppen. Von da an wollte Angelika Schemmel selbst anderen Menschen helfen und machte eine Ausbildung zur freiwilligen Suchtkrankenhelferin. „Wenn man anderen hilft, wird man selbst ein anderer Mensch“, ist sie überzeugt. Seit fast 30 Jahren ist sie nun in der Suchthilfe aktiv, leitet verschiedene Selbsthilfegruppen; seit 2004 im Rahmen des „Freundeskreises“ – einem Verband, der sich deutschlandweit in der Suchtkrankenhilfe engagiert. Zwei Mal in der Woche bietet die 68-Jährige im Freundeskreis Hof Einzelgespräche und Gruppentreffen an. Ihre Kontaktdaten sind regelmäßig in der Lokalzeitung zu finden. Um sich selbst laufend weiterzuentwickeln, besuche sie Schulungen des Landesverbandes der Freundeskreise, beschäftige sich mit medizinischen Themen und habe sich in häuslicher Krankenpflege ausbilden lassen. Heute fühle sie sich „gesund wie ein Fisch im Wasser“, achte sehr auf gesunde Ernährung und sei gern mit ihrem Hund draußen in der Natur.
Das A und O
„Man braucht Zeit, Geduld und Menschenkenntnis“, beschreibt Angelika Schemmel ihre Tätigkeit in der Suchtkrankenhilfe. Vielen Mitgliedern der Selbsthilfegruppen helfe sie darüber hinaus bei praktischen Alltagsproblemen. Außerdem werde zusammen gewandert, gekocht oder gebastelt. Das Wichtigste sei jedoch der Austausch untereinander: „Gespräche sind das A und O gegen Seelenschmerz“, ist Schemmel überzeugt. Das gelte auch für die Angehörigen von Suchtkranken, die oft besonders unter der Situation litten. Seit 1993 ist deshalb auch Ehemann Günther in der Selbsthilfe aktiv und bringt seine eigene Erfahrung in Angehörigengruppen ein.
Und sie selbst? Wird ihr das nicht manchmal alles zu viel? Immerhin verbringe sie bis zu vier Stunden am Tag am Telefon, sei sehr viel unterwegs und habe wenig Zeit für andere Dinge, wie sie selbst berichtet. Wichtig sei es deshalb, auch persönliche Freunde zu haben. „Man braucht Menschen, mit denen man reden kann.“ Claudia Schott
Kontakt
Selbsthilfegruppe für Alkohol-, Drogen-, Medikamenten- und andere Suchtformen;
Angelika und Günther Schemmel, Telefon 09294 1294
schemmel-g@t-online.de
www.freundeskreis-sucht.de
Foto: Claudia Schott